Kapitel R
16
Mikrotonale Musik als Teil von Zeichensystemen
Eine der aktuellen Herausforderungen bei der Beschäftigung mit mikrotonaler Musik zeigt sich darin, dass die musiktheoretische Fachterminologie nicht mehr ausreichend greift, wo es um eine intellektuelle Verarbeitung der gemeinten mikrotonal erklingenden Phänomene geht.
Von diesem Problem sind so grundlegende Fachbegriffe wie Prim, Sekund, Terz, Quart, Quint usw. überhaupt nicht ausgenommen:
Natürlich ist „die Terz“ der dritte (lateinisch: tertius) Ton, insoferne ist die Bezeichnung ja korrekt, ebenso wie die Bezeichnung „Quint“ – von „quintus“, lateinisch: der fünfte (Ton).
Aber: Nur innerhalb „der“ (welcher ?) siebenstufig-diatonischen Tonleiter ist „DIE“ Terz der dritte Ton. Und dabei kann „sie“ einmal eine große Terz (Frequenzverhältnis 4:5), einmal eine kleine Terz (5:6) sein – unterschiedlich je nach Art der Tonleiter (Dur, Moll, dorisch, lydisch usw.).
Innerhalb der (in Distanzschritten gleichmäßig angeordneten) „chromatischen“ (griechisch „chroma“: Farbe) Tonleiter ist die kleine Terz aber der vierte ( „quartus“) Ton, und die große Terz ist dort der fünfte (!) Ton („quintus“) !
Und während die Terz (der „dritte“ Ton) in der Partialtonreihe an fünfter (!) und sechster (sowie mikrotonal an siebenter usw.) Stelle vorkommt, ist in der Partialtonreihe die Quint (der „fünfte“ Ton) an dritter (!) Stelle zu finden.
Welche der Terminologien ist nun die angemessene für mikrotonale Musik, für einen speziellen mikrotonalen Stil usw. ? Muss das einfachste Zählen neu erlernt werden ?
Verwirrend war immer wieder die hermeneutische Diskussion über Musik: Wer z.B. die Zahl Fünf als “komplizierter“ ansah als die Zahl Drei (auch wer die Fünf deshalb z.B. als “fortschrittlicher“, als „höherwertig“ oder als „kompliziert“ deuten wollte), konnte mit der Fünf nun sowohl die Quint als auch die Terz meinen:
Die Quint wegen ihrer Stelle in traditionellen diatonischen Tonskalen (als fünfter Ton dort) - letztere wegen ihres Platzes in der chromatischen Skala (als fünfter Ton dort) und wegen ihrer mathematischen Frequenzproportion (4:5 oder 5:6) im Zusammenhang „der Naturtonreihe“.
In solchen Zusammenhängen zeigt sich, dass sich bei mikrotonaler Musik völlig neu all die verschiedenen Fragen der musikalischen Terminologie und Symbolik stellen. Das Nachdenken über bisherige Formen der Musiktheorie wird ebenso unvermeidlich wie das Prüfen musikpädagogischer Zusammenhänge – wenn es denn darum gehen soll, interkulturelle Auswirkungen mikrotonaler Musik friedlich zu bewältigen.
Selbst wer nicht so weit gehen will, eine „besondere Schönheit“ spezieller Musikstile (also vorrangig „der eigenen Musik“) beweisen zu wollen, indem bestimmbare Merkmale dieser Musik als Begründung angeführt werden, entkommt nicht der problematischesten Wirkung verbal entstandener Musiktheorien:
Die gesamte Terminologie der Musiktheorie (und Theorien über Musik) ist durchsetzt von mehrdeutigen verbalen Begriffen.
So peinlich es für einen Musiktheoretiker einzugestehen sein mag: Die menschliche Methode, Sachverhalte mit Worten und Wortkombinationen zu kommunizieren, war noch nicht einmal ausreichend, um auch nur die einfachsten Phänomene der Musik eindeutig, themengerecht und klar zu bezeichnen.
Schnell wird z.B. in verbalen Mitteilungen der Punkt erreicht, wo (bei Proben) gesagt wird, „spielen Sie doch bitte den vierten Ton im siebenten Takt ein bisschen höher“. Ähnliche Mitteilungen gibt es noch häufiger bei nicht-notierter mikrotonaler Musik. Wenn es in mikrotonaler Musik keine Takte gibt usw., dann wird noch umständlicher formuliert. Fachliche Hinweise, die eigentlich klar sein könnten – wie „21,5 Cent höher“, „ein Zwölftelton höher“ oder „ein syntonisches Komma höher“ – sind bis heute schwierig umzusetzen, weil sie unter Berufsmusikern kaum verstanden werden..
Jede musikalische Fachterminologie war und ist geprägt von symbolischen Bezeichnungen. Jeder musiktheoretische Fachbegriff kann zudem einer oder auch mehreren Traditionslinien angehören. Und in deren Zusammenhang kann durchaus auch Unterschiedliches mit ein und demselben Wort gemeint sein.
Daraus resultierende Kommunikationsprobleme waren solange ganz gut bewältigbar, als innerhalb nur einer einzigen Traditionslinie argumentiert wurde.
Mikrotonale Musik gehört aber unterschiedlichen Traditionen an (ostasiatischen, europäischen, orientalischen, avantgardistischen, folkloristischen, elektroakustischen usw.). Kommunikation für das Ausführen mikrotonaler Musik könnte „interkulturelle“ Fachbegriffe verwenden – wenn diese ausreichend bekannt wären bei allen jeweils Beteiligten. Aber Instrumentalmusiker sind selten zugleich Hermeneutiker, Ethnologen, Übersetzer usw.