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Ulf-Diether Soyka

KREATIVE MUSIKPÄDAGOGIK

Unsere Epoche versucht, sich einige zentrale Entscheidungen zu ersparen. Im Musikleben geht es dabei u.a. um Fragen, ob Musik ein Privatvergnügen möglichst aller kulturell aktiven Menschen ist und sein soll, oder ob es sich um ein Angebot von beruflichen Spezialisten für zuhörendes Publikum handelt und handeln soll.

Diese beiden Möglichkeiten müssen einander nicht ausschließen: Würde man den ersten Denkansatz bevorzugen, dann wäre es konsequent, die nötigen musikalischen Fähigkeiten vorbehaltlos an alle jungen Menschen weiterzugeben. Würde man für die spezielle Sicherung der Musikberufe entscheiden, dann wäre es konsequent, diese für ihre Arbeit ausreichend zu honorieren.

Statt musikalisch berufstätiger Menschen kann man natürlich auch CDs und andere Tonträger bevorzugen, die dann aus jeder Ecke tönen. Und statt der Ausbildung aller musikalischen Fertigkeiten kann man auch im Schulsystem das musikpädagogische Angebot einschränken.

Beides geschah im Europa des 20. Jahrhunderts.

Über das eine der beiden Themen - die Bevorzugung von Tonträgern gegenüber musizierenden, lebenden Mitmenschen - wurde schon viel geschrieben. Die Folgen dieser Entwicklung sind ja heute auch unüberhörbar.

Die andere Entwicklung ist erst wenigen Menschen bewusst geworden: Die konsequente Einschränkung des musikpädagogischen Angebots. Über sie und über Alternativen dazu soll im Folgenden kurz nachgedacht werden:

Es geht dabei um das pädagogische Thema "musikalische Kreativität" und ihre Rolle in der heutigen organisierten Musikausbildung.  Dazu ein kurzer Vergleich mit anderen pädagogischen Systemen:

Wenn jemand eine Sprache lernt, dann trainiert man das Übersetzen der Vokabel immer von beiden Seiten - von der Fremdsprache in die Muttersprache, und auch umgekehrt.

Im Schulfach Bildnerische Erziehung werden den Lernenden nicht nur Bilder vorgesetzt, die sie erleben, werten und interpretieren können: Sondern die Kinder und Jugendlichen üben selbst auch Zeichnen und Malen.

Hier wird nicht nur passiv und rezipierend gelernt, sondern auch aktiv und schaffend. Nicht nur von außen kommende Bilder werden durch die Lernenden im Inneren aufgenommen und verarbeitet, sondern es werden auch innen erfundene und gefundene optische Vorstellungen nach außen materiell dargestellt.

Auch im Sprachunterricht der Schulen wird nicht nur gelesen, sondern zusätzlich - mehr oder weniger frei - geschrieben. Die eigenen Gedanken der Lernenden zeigen sich in Aufsätzen verschiedener Formen und Inhalte. Da werden Nacherzählungen, Fortsetzungsgeschichten, Zeitungskommentare, Erlebnisberichte und sogar Gedichte und freie Aufsätze verfasst.

Und das ist gut so.

Wie sieht nun der allgemeine Unterricht in Musik und in der Notenkenntnis aus ?

Auch hier gibt es den Unterschied zwischen Wissen und Fertigkeiten.

Wissen wird z.B. vermittelt über das Leben von Komponisten, über die Notation von Tonleitern, über die Funktion von Musik-Computern usw.

Hören wird z.B. geschult durch Kennenlernen von Musik unterschiedlicher Stilrichtungen und Epochen. Dabei muss Musik muss Schulen nicht immer gänzlich passiv erlebt werden, man kann sie auch in bunte Graphiken umsetzen, die Lernenden können auch die Notenzeilen mitverfolgen oder tanzen zu Musik. D.h. sportliche oder bildnerische Aktivitäten der Lernenden können deren passives Wahrnehmen von Musik begünstigen.

Musizieren darf als schon aktivere Betätigung der Lernenden ebenfalls im Unterricht nicht zu kurz kommen: Es wird im Unterricht gesungen und gespielt, fallweise wird auch frei improvisiert an diversen Orff- oder Geräusch-Instrumenten.

Was aber heute im allgemeinen Schulbetrieb noch immer zu kurz kommt - und bisher unvermeidbar zu kurz kommen musste - das ist der riesige Bereich musikalischer Kreativität.

Um es sehr kurz und pointiert zusammenzufassen: Im schulischen Musikunterricht wird nicht frei komponiert (während in anderen Fächern  kreativ gezeichnet oder getextet werden kann).

Warum ist das so ? Im Jahr 1979 stellte ich im Rahmen meiner eigenen musikpädagogischen Studien einen Antrag an der damaligen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Ich wollte ein neues Fach studieren, welches noch nirgends existierte: "Kompositionspädagogik". Mein Ansuchen wurde von der zuständigen Abteilung für Musikpädagogik abgelehnt.

Erst viele Jahre später wurde anderen Studierenden dieses Studium genehmigt, in Form eines "Studium irregulare".

Inzwischen stellte sich nämlich in zahlreichen Schulveranstaltungen an allgemeinbildenden höheren Schulen heraus, dass Schulklassen in der Gruppe komponieren können. Die Ergebnisse dieser Fähigkeit reichen weit über Geräusch-Collagen hinaus. Die jungen Leute können ohne große pädagogische Mühe dazu gebracht werden, eigene Texte mit Melodie, Rhythmus und Harmonie zu vertonen. Und sie sind glücklich und begeistert dabei.

Darüber hinaus gibt es inzwischen Musik-Computer und -Programme, durch die auch in Schulklassen die Möglichkeit entsteht, dass die Lernenden einzeln, paar- oder gruppenweise mittels Keyboard, Kopfhörer, Mikroprozessor und Bildschirm umfangreiche Kompositionen fertig stellen und notieren können. Durch diese Hilfsmittel stören sie einander heute nicht mehr gegenseitig beim Komponieren.

Musikunterricht muss heute also nicht mehr beschränkt bleiben auf das Rezipieren und auf das Interpretieren historisch vorhandener Musik. Aktiv KREATIVER Musikunterricht ist möglich geworden. Schüler und Schülerinnen können komponieren, und viele wollen es gerne. Sie bekommen aber dafür im schulischen Musikunterricht kaum geeignete Hilfen angeboten (ähnlich wie bisher im Probenkeller der Bands).

Leider gibt es nämlich noch immer keine gezielte Ausbildung, durch welche die  musikpädagogisch Unterrichtenden selber dazu befähigt würden, solchen (!) Unterricht zu erteilen. Noch immer ist an den Musik-Universitäten das künstlerische Fach "Komposition" eine Randerscheinung im Studium der allgemeinen Musikerziehung.

Und noch immer gibt es normalerweise kein eigenes Lehramts-Studium Komposition.

Gute Musikpädagog/inn/en haben daher selbst bestenfalls gelernt, tonsetzerisch zu komponieren - aber an kaum jemanden wurde innerhalb der normalen Ausbildung dasjenige Können vermittelt, das nötig wäre, um die Fähigkeiten des Komponierens an junge Menschen weiterzugeben.

Wer heute von Kompositionsunterricht spricht, denkt dabei an die hoch komplizierten Produkte von Studenten um das etwa 25. Lebensjahr. Die elementaren kompositorischen Begabungen von 8- oder 14-Jährigen finden nur in Ausnahmefällen entsprechende musikpädagogische Förderung. Das praktisch alle Dreijährigen der Welt noch frei Melodien erfinden können, wird als pädagogischer Ansatz fast völlig übersehen.

Dieses Defizit wirkt sich nicht nur in Regelschulsystemen, sondern auch in Musikschulen aus - wo es weiterhin kaum Angebote von Hauptfächern wie "elementares Komponieren", "Songwriting", "Tonsatz", "Klavier-Improvisation" usw. gibt.

Heute sind viele jungen Leute mehr interessiert an eigener aktiver Kreativität als früher. Viele lernen Notenlesen nicht so sehr durch das Einstudieren älterer Kompositionen, sondern sie wollen ihre eigenen Einfälle notieren lernen - z.B. für ihre Rockmusik-Band, für Filmmusik-Projekte usw. Wenn ihnen die nötigen Lerngelegenheiten erst im Studenten-Alter geboten werden, ist das ziemlich spät und mühsam für alle Beteiligten.

Begegnet man aber jungen Leuten, die lernen durften, ihre musikalischen Einfälle selber zu notieren, dann ist man oft erstaunt darüber, wie aktiv, interessiert und begeistert sie dadurch auch der historischen, bereits komponierten Musik begegnen können. Sie lernen z.B. Notenlesen, musiktheoretische Fachbegriffe usw. in einem vielfach höheren Tempo.

Daher empfehle ich, heute die gesamte Musikpädagogik durch einen revolutionären Denkansatz umzukehren: Musik und Notenkenntnisse sollen prinzipiell KREATIV erforscht werden durch die Lernenden.

Passivere und interpretierende Methoden der Musikpädagogik haben demgegenüber jetzt einmal etwas in den Hintergrund zu treten.

Dass die kreative Methode des Zugangs zur Musik möglich und erfolgreich ist, lässt sich zunehmend an Beispielen belegen, wo junge Leute das Glück hatten, entsprechende Hilfen privat zu finden. Es gibt aber auch Schulen - z.B. Pflichtschulen in England - die dieses musikpädagogische Modell seit Jahren praktizieren und es durch gelungene Aufnahmen der Schülerwerke bestätigen. Auch die Wiener Sommerseminare für neue Musik brachten teils ähnlich gute und belegbare Ergebnisse - Musik von  Jugendlichen und Erwachsenen. Junge Leute lernten dort, ihre eigenen musikalischen Einfälle  zum Klingen zu bringen (und übten dabei viele weiteren Fertigkeiten). Beispiele lassen sich auch in anderen Staaten und in Österreich finden.

Zwei Punkte sollten den entscheidenden Instanzen dabei zunächst im Bewusstsein bleiben: Es muss gewisse Ausnahmen im Urheberrecht geben, um pädagogischen Spielraum zu gewinnen: Nicht jeder Durdreiklang ist ein Plagiat. Und die Frage der musikalischen Begabung ist neu zu bewerten:

Wodurch zeigt sich denn Musikalität ? Durch gutes Zuhören ? Durch exaktes rhythmisches Gedächtnis ? Durch das Training des Notenlesens ?  Durch die Fähigkeit zum "wohltemperierten" Singen einer möglichst komplizierten Zwölftonreihe ? Durch die  mathematisch "reine" Intonation harmonischer Klänge oder feinster Tonhöhenunterschiede (z.B. Mikrotöne) ? Oder durch die Fähigkeit, sich Musik im Kopf vorzustellen, und sie auch in der Realität zum Klingen zu bringen - durch praktisches Umsetzen  der eigenen musikalisch kreativen Phantasie in klingende Ergebnisse ?

Im bisherigen Regelschulsystem bzw. in den Lehrplänen ist die Frage nach der Musikalität Jugendlicher selten zugunsten des letzten Punktes entschieden worden. Musikalische Eigen-Kreativität spielt im Normalfall des Schultages so gut wie keine Rolle - ganz zum Unterschied von Schulfächern wie Zeichnen. Insoferne gehörte "Musik" leider selten wirklich zu den "kreativen Fächern".

Schulsysteme sollten aber nicht immer nur die oben erstgenannten Typen von Musikalität fördern und den kreativen vernachlässigen. Gerade junge Leute des nun neu zu entdeckenden Typs sind enorm musikbegeistert - wenn man sie ihr Fach erforschen lässt. Sie lernen dann eifrig in einem Tempo und Ausmaß wie kaum jemand sonst Notenkenntnis, Rhythmik,  Singen, Aufnahmetechniken,  Musiktheorie, Computerkenntnisse usw. - durch das eigene aktive Musikmachen auf allen Ebenen. Beim gemeinsamen Umsetzen ihrer musikalischen Einfälle gewinnen sie in besonderer Weise soziale Kompetenz.

Gewiss: Spitzenbegabungen dieses neu zu fördernden Typs können auch heute schon ganz traditionell Komposition studieren - in höherem Alter. Aber was soll aus den vielen jungen Menschen werden, welche Musik lieben, indem sie in jungen Jahren klingende musikalische   Gesetzmäßigkeiten kreativ probierend erforschen ?

Im Alter von drei Jahren sind fast alle noch musikalisch kreativ und lernbegeistert - ab dem Schuleintritt zählt hingegen der einstudierte Einfall früherer "Genies", und die eigene musikalisch-kreative Motivation der Jugendlichen muss zurücktreten.

Warum eigentlich ? Muss das so bleiben ? Gibt es dafür einen stichhaltigen Grund ? 

Ein mögliches Hindernis kann darin zu finden sein, dass die Frage der Wertung von subjektiven musikalischen Einfällen im Schulalltag Probleme verursachten würde. Ich plädiere auch keineswegs dafür, mittels Schul-Zensuren zwischen angeblich "guten" und angeblich "weniger guten" Schüler-Kompositionen und Melodie-Einfällen neue Barrieren zu errichten. Auch neues Mobbing gegenüber der Ästhetik von Außenseitern soll hier nicht verursacht werden - derlei Phänomene kennen wir ja doch zur Genüge, speziell  aus der "genialen" Musikgeschichte des 20.Jahrhunderts.

Es kann nicht darum gehen, Schulnoten für Komponieren zu erteilen (ähnliche Probleme kennt man aus dem Unterricht in Zeichnen usw.). Ich selbst wollte als Jugendlicher 15 Jahre lang niemandem meine Kompositionen zeigen, um mich vor seelischen Verletzungen zu schützen - seit ich als Reaktion von Pädagogen nicht Hilfe, sondern Abwertung erlebt hatte.

Ich kenne auch weitere meiner eigenen subjektiven Widerstände: Ich selbst bevorzuge natürlich Publikum für meine eigenen Kompositionen. Komponierende Schüler zu haben ist mir persönlich weniger wichtig. Und die Zahl komponierender Mitmenschen muss meinethalben nicht mehr unbedingt erhöht werden, solange nur eine gewisse Zahl von ihnen in Musikberufen existieren kann.

Aber im allgemein bildenden Schulsystem geht es kaum um Fähigkeiten für spezielle Berufe, sondern um Allgemeinbildung. Diese allgemeinen Fähigkeiten Jugendlicher waren bezüglich Komponieren und Musiktheorie einst sogar höher als heute.

Dass man das Komponieren großer musikalischer Kunstwerke nicht in der Pflichtschule lehren und lernen kann, wird vermutlich klar bleiben. Dazu gehören singuläre, teils unwiederholbare Voraussetzungen. Dass nicht jede Schulkomposition von philharmonischen Orchestern gespielt werden kann, ist ebenso klar.

Aber sollen deswegen junge Menschen wirklich allein gelassen bleiben von den für ihre Altersstufe maßgeblichen pädagogischen Instanzen, sobald sie selber kreativ werden ? Soll das vorhandene Know-how den wenigen kompositorischen Spitzenkräften vorbehalten bleiben ?

Und soll das musikpädagogische Potential nur zur Hälfte genützt werden, indem man die "musikalischen Vokabel" immer nur "in der einen Richtung" lernt (von außen nach innen, und nicht umgekehrt) ?

Selbst das Stellen solcher Fragen wurde im 20. Jahrhundert verzögert. Aber können durch solche Ritardandi die ausübenden Musikberufe oder die musikpädagogischen Berufe gesichert werden ? Können die technischen Errungenschaften des Musik-Programmierens vor der Jugend verborgen bleiben ? Und ist es sinnvoll, Kulturen mit möglichst wenig musikalisch kreativen Menschen aufzubauen ? Musik war doch immer auch ein spiritueller Motor der neuesten Erfindungen.

Wofür hat denn die Menschheit all diese faszinierenden technischen Errungenschaften entwickelt: Um damit jetzt das Musikleben einzusparen - oder um begeisternde Einfälle zu fördern ?

 

MMag.art. Ulf-Diether Soyka, Komponist | Marzellingasse 12/14 | A-3400 Klosterneuburg | Tel.mobil +43 676 4268277.
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